09.03.2017

Diakonisse Johanne auf ihrem letzten Weg

Die Bestattung auf dem Gottesacker ist seit Gründung Nieskys Tradition. Dabei zeigen auch die Kraftfahrer Rücksicht.

Von Steffen Gerhardt

Ihr war ein langes Leben geschenkt. Mitte Mai wäre Johanne Seidel 103 Jahre alt geworden. Doch am 26. Februar hörte ihr Herz auf zu schlagen, am Mittwoch wurde die Diakonisse auf dem Gottesacker beigesetzt. Vielen Nieskyern war sie als Schwester Johanne bekannt, die bis in ihr hohes Alter in der Stadt unterwegs war. Die weiße Schwesternhaube auf dem zusammengesteckten Haar, ihre markante Brille mit Metallgestell auf der Nase und in einen langen schwarzen Mantel gekleidet, so zeigte sich die Diakonisse in der Öffentlichkeit.

Am Mittwoch führte sie der Weg noch einmal durch Niesky, aber in einem mit einem weißen Tuch bedeckten weißen Holzsarg auf einem Wagen, geschoben von vier Männern. Der Weg von der Brüderkirche zum Gottesacker hat für die Diakonissenanstalt Tradition. Auch wenn sich in den zweidreiviertel Jahrhunderten ihrer Existenz die Stadt Niesky sehr verändert hat, die Route ist bis heute dieselbe geblieben.

Die Zeremonie der Bestattung zählt zu den besonderen Merkmalen von Niesky. Denn in anderen von der Brüdergemeine geprägten Städten ist es nicht Tradition, den Verstorbenen auf diese Art öffentlich zum Friedhof zu geleiten, sagt Oberin Schwester Sonja Rönsch. „Selbst die Kraftfahrer nehmen Rücksicht, wenn sich der Trauerzug Richtung Gottesacker bewegt“, schildert die Oberin ihre auch am Mittwoch wieder gemachte Beobachtung. Manchmal scheint die schnelllebige Welt doch inne zu halten – und sei es bei einem weißen Sarg, der die Straße quert.

Johanne Seidel war diese Tradition über Jahrzehnte hinweg sicherlich ebenso vertraut. Im September 1944 kam sie als 30-Jährige nach Emmaus und trat der Diakonissenschwesternschaft bei. Kaum da, musste sie mit Personal, Patienten und Heimbewohnern auf die Flucht westwärts, denn es hieß: Die Russen kommen! Ein Jahr später kehrte sie mit den anderen Geflüchteten nach Niesky zurück – zu einem Neuanfang.

Emmaus blieb sie über sieben Jahrzehnte – bis zu ihrem Ableben – treu. In ihrer Dienstzeit durchlief sie viele Stationen in der Einrichtung. Säuglingsheim, Labor und Speisesaal waren ihre Arbeitsorte. „Bis zuletzt bewahrte sie sich ihren flinken Gang und man konnte sie immer wieder auf ihren Spaziergängen rund um das Mutterhaus antreffen“, sagte Pfarrerin Christiane Bättermann während der Andacht zum Begräbnis in der Brüderkirche.

Mit Johanne Seidel ist eine weitere Diakonisse gegangen, die Emmaus als Schwesternschaft einst prägten. Nun leben noch acht Diakonissen in der Einrichtung, zwei davon sind im Dienst. Eine von ihnen ist die Oberin. Nach ihrer Ansicht wird es wohl keine neuen Diakonissen für Emmaus mehr geben. Die Zeiten haben sich geändert, die Ausrichtung von Emmaus ebenfalls. Schwester Sonja erklärt: „Die Tracht und die Ehelosigkeit sind heute in unserem Haus keine zwingende Notwendigkeit mehr, um Mitglied in der Schwesternschaft zu werden.“

Hinzu kommt, dass mit den Diakonissen rund 60 Frauen und Männer als Diakonische Schwester oder Diakonischer Bruder in der Einrichtung leben. „Beide Gemeinschaften haben in unserem Hause eine jahrzehntelange Tradition. Diese wird seit einigen Jahren in der Emmausgemeinschaft fortgeführt“, sagt die Oberin. Was dabei unverzichtbar bleibt, ist die Orientierung an der Bibel.

Dieses Buch war zeitlebens Hilfe und Wegweiser für die in Chemnitz geborene und aufgewachsene Johanne Seidel. Daran erinnerte Pfarrerin Bättermann. Beginnend mit ihrer Anstellung 1938 als Hausmädchen bei einer Pfarrersfamilie bei Radeberg, bis hin ins hohe Alter. Schon in jungen Jahren mit einer Schwerhörigkeit belastet, war es für Johanne Seidel „eine schwere Lebensschule, diese Wirklichkeit in ihrem Dasein zu integrieren“, sagte die Pfarrerin.

Aus diesem Grund war es der Diakonisse nie vergönnt, eine Ausbildung abzuschließen. Ihren Lebensmut schöpfte sie aus Liedern, Chorälen und Bibelversen. „Beim Singen strahlte ihr Gesicht und wir hatten das Gefühl, dass sie Gottes Reich schon sehen kann“, erinnerte die Pfarrerin während des Treffens zum Liebesmahl, das sich dem Begräbnis anschloss.